VERTIKALE SICHT

7 Ein Fotograf bildet Realitäten nicht absichtslos ab. Er richtet die optischen Finessen des Apparates ein, er platziert ihn, er bestimmt mit seinem Auge und Wissen, wann der richtige Augenblick ist: Dann verarbeitet er das Bild im Labor oder auf dem Computer und er stellt schliesslich die Fotografien zu einer Bilderzählung zusammen. Andreas Busslinger untersucht mit seinen Vogelbildern so Schönheit und Eigenart. Neugierig dokumentiert er formale Variationen in den Bildern der belassenen, der gebrauchten und der nicht mehr gebrauchten Schweiz. Er untersucht und ordnet Industriebrachen im Mittelland, Strassenknäuel in der Agglomeration, den Wald in den Voralpen oder den Gletschersee beim ewigen Schnee. Sein Interesse sind formale Differenzen und Gleichformen. Sein Vorteil und sein Können als Bilderzähler ist – er sieht ein Bild so, wie wir apparatelosen Nichtflieger es nie sehen, ja es uns nicht einmal vorstellen können. Und seine Neugierde und Freude an der formalen Vielfalt – den Formen, Figuren, Verläu- fen und Proportionen – haben etwas Tröstliches. Auch die Geraden, Kurven und Kreise der grossen Autobahnkreuze haben eine ästhetische Kraft, die sie uns entziehen, wenn wir im Stau in ihnen festsitzen oder als Wanderinnen uns ärgern, wie rücksichtlos die Landnahme der mobilen Gesellschaft ist. Die «Zeitreise» von Swisstopo, die Erinnerung im Kopf und Andreas Busslingers Bilder im Buch auf dem Tisch – die Veränderungen in der Landschaft, seit der Zeit als ich das erste Mal in Ueli Bärfuss’ Helikopter über sie geflogen bin, sind atemberaubend. Wohl kann ich mich der formalen Faszination nicht entziehen, die die Veränderungen von oben gesehen bewirkt haben. Die Installationen für das komfortable Leben und den Reichtum in der Schweiz des Mittellandes und die Verwerfungen geologischer, klimatischer, topographischer Veränderung in den Bergen gerinnen in den Fotografien zu einem Bild der langen Dauer, wenn nicht der Ewigkeit. Die Anlagen für die Produk- tion, die Mobilität, das Wohnen und die Freizeit kommen alle aus einer Zeit, als der Klimawandel und dessen Folgen noch als Gerüchte abgetan worden sind. Und auf den Bildern gibt es keine Anzeichen, dass die Gesellschaft und das Land die Zeitenwen- de erkannt hätten und neue Spuren zu legen beginnen. Die Kraft und Wucht, mit der die Landschaft ausgebaut und befestigt wird für einen Lebensstil, der weder klima­ vernünftig noch zukunftstauglich ist, lässt mich ratlos. Als Kopilot von Ueli Bärfuss in den Sechzigerjahren war ich hingerissen von der Schönheit unter mir. Als Kopilot von Andreas Busslinger bin ich melancholisch. Die auf den ersten Blick stabilen, sicheren und reichen Landschaften tun nur so, als würden sie die Natur beherrschen – sie sind fragil, verletzlich und gefährdet. Köbi Gantenbein

RkJQdWJsaXNoZXIy NTcyNzM=