Felchen-Vielfalt Schweiz

1 Felchenvielfalt in Seen der Schweiz – Schlussbericht 2025 DIE AUSSERGEWÖHNLICHE VIELFALT DER FELCHEN DER SCHWEIZ ERGEBNISSE AUS 150 JAHREN FORSCHUNG Oliver M. Selz Pascal Vonlanthen Thomas Kreienbühl Ole Seehausen Eawag Das Wasserforschungsinstitut des ETH-Bereichs

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2 Felchenvielfalt in Seen der Schweiz – Schlussbericht 2025 3 Felchenvielfalt in Seen der Schweiz – Schlussbericht 2025 Impressum Auftraggeber Bundesamt für Umwelt (BAFU), Abt. Wasser, CH-3003 Bern Das BAFU ist ein Amt des Eidg. Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) Auftragnehmer Eawag Abteilung Fischökologie und Evolution Seestrasse 79 CH-8047 Kastaniebaum eawag.ch Autoren Oliver M. Selz (bis 2022 Mitarbeiter der Eawag): oliver.selz@bafu.admin.ch Pascal Vonlanthen: p.vonlanthen@aquabios.ch Thomas Kreienbühl: thomas.kreienbuehl@ecqua.ch Ole Seehausen: ole.seehausen@eawag.ch Hinweis Diese Studie wurde im Auftrag des Bundesamtes für Umwelt (BAFU) erstellt. Für den Inhalt dieses Berichts ist allein der Auftragnehmer verantwortlich. Zitiervorschlag Selz, O.M., P. Vonlanthen, T. Kreienbühl & O. Seehausen. 2025 (Version 1, ohne Empfehlungen zum Erhalt der Felchenvielfalt). Die aussergewöhnliche Vielfalt der Felchen der Schweiz – Ergebnisse aus 150 Jahren Forschung. Eawag /Aquabios GmbH. Auftraggeber: Bundesamt für Umwelt, Bern. Layout katja@grafikvonfrauschubert.com Fotos und Abbildungen Alle nicht anders gekennzeichneten Fotos und Abbildungen sind Eigentum der Eawag. Foto Titelseite Kropfer (Coregonus profundus) aus dem Thunersee. Verdankung Wir bedanken uns herzlich bei den beteiligten Berufsfischerinnen und Berufsfischern sowie den kantonalen Fischereiver- waltungen für ihre wertvolle Unterstützung, ihre Gastfreundschaft und das Teilen ihres Wissens über die Felchen der Schweiz. Ein besonderes Dankeschön gilt auch den zahlreichen Studentinnen und Studenten der Universität Bern und der Eawag sowie allen weiteren Helferinnen und Helfern, die uns tatkräftig im Feld unterstützt haben. Diese Arbeit ist Teil des vom BAFU finanzierten Projekts «Felchenvielfalt in Schweizer Seen» (Beitrag: «A2310.0132 Wasser»). Weitere Mittel stammen von der Abteilung Fischökologie und Evolution sowie der Kommunikationsabteilung der Eawag und der Abteilung Aquatische Ökologie und Evolution der Universität Bern. Die Texte, die mit dem Zusatz «Eawag» gekennzeichneten Fotos sowie alle Grafiken und Tabellen unterliegen der Creative-Commons-Lizenz «Namensnennung 4.0 International». Sie dürfen unter Angabe der Quelle und Zusendung eines Belegs an medien@eawag.ch frei vervielfältigt, verbreitet und verändert werden. Weitere Informationen zur Lizenz finden sich unter http://creativecommons.org/licenses/by/4.0.

4 Felchenvielfalt in Seen der Schweiz – Schlussbericht 2025 5 Felchenvielfalt in Seen der Schweiz – Schlussbericht 2025 1 Zusammenfassung / Résumée 6 2 Einführung 8 2.1 Ausgangslage und Ziele des Berichts 8 2.2 Rechtliche Grundlagen 12 2.3 Zielvorgaben 12 3 Felchenvielfalt in der Schweiz 13 3.1 Heutige Verbreitung 13 3.2 Besiedlungsgeschichte 15 3.3 Was ist eine Art 16 3.4 Neue Felchenarten durch ökologische Artbildung 17 3.4.1 Beispiel Walensee: klare Differenzierung zweier Arten 19 3.4.2 Beispiel Neuenburgersee: fliessender Übergang von einer Art zur anderen – 21 natürlich oder anthropogen versursacht 3.4.3 Beispiel Thunersee: ausserordentlich grosse Felchenartenvielfalt 23 3.5 Anpassung an Nahrungsnischen erklärt Artenvielfalt pro See 25 3.6 Fortpflanzungsverhalten führt zu reproduktiver Isolation 26 3.6.1 Laichzeit 26 3.6.2 Laichtiefe 27 3.6.3 Assortative Paarung 28 3.6.4 Exkurs: Felchenlaichplätze 28 3.7 Parallele Entstehung von ähnlichen Arten 29 3.8 Massives Artensterben nach Umweltveränderungen 29 3.9 Felchentaxonomie – früher und heute 33 3.10 Genetik ermöglicht neue Einblicke 34 3.10.1 Phylogenetische Einblicke in die Besiedlungsgeschichte 35 3.10.2 Erste Aufschlüsselung der Schweizer Artenvielfalt dank neuerengenetischen Methoden 35 (Mikrosatelliten und AFLP) 3.10.3 Vertiefte Einblicke in Phylogenetik und Evolution 36 4 Felchenfischerei 38 4.1 Felchenfischerei in der Schweiz 38 4.1.1 Berufsfischerei 38 4.1.2 Angelfischerei 39 4.2 Regulation der Felchenfischerei 40 4.3 Bewirtschaftung durch Besatzmassnahmen 41 4.3.1 Felchenbesatz 41 4.3.2 Erfolgskontrollen Felchenbesatz 41 4.3.3 Erfolgskontrollen zur natürlichen Fortpflanzung 43 4.4 Monitoring 44 4.5 Einfluss der Fischerei auf die Felchenartenvielfalt 44 4.5.1 Ungleicher Befischungsdruck auf verschiedene Felchenarten 45 4.5.2 Selektive Entnahme führt zu Evolution von langsamem Wachstum 46 4.5.3 Besatzbewirtschaftung und potentielle Folgen: Hybridisierung zwischen Arten und 46 fehlende natürliche Partnerwahl 4.6 Nährstoffe, Felchenfischerei und Artenvielfalt 48 Inhaltsverzeichnis 5 Schlussfolgerung 49 6 Literaturverzeichnis 50 7 Anhang – Seen 57 7.1 Bodensee 58 7.2 Genfersee 74 Léman 84 7.3 Greifen- und Pfäffikersee 94 7.4 Jurarandseen 106 Lacs du Seeland 130 7.5 Zugersee 154 7.6 Hallwiler- und Baldeggersee 164 7.7 Sempachersee 176 7.8 Zürich- und Walensee 186 7.9 Vierwaldstätter- und Sarnersee 206 7.10 Thuner- und Brienzersee 236 INHALTSVERZEICHNIS INHALTSVERZEICHNIS

6 Felchenvielfalt in Seen der Schweiz – Schlussbericht 2025 7 Felchenvielfalt in Seen der Schweiz – Schlussbericht 2025 ZUSAMMENFASSUNG RÉSUMÉE 1 Zusammenfassung Die Artenvielfalt der Felchen in den grossen Seen der Schweiz ist einzigartig. Sie hat sich in den letzten rund 15000 Jahren entwickelt und spielt eine zentrale Rolle in diesen Ökosystemen, da Felchen natürlicherweise die bei weitem grösste Fischbiomasse in allen Lebensräumen der grösseren Seen – mit Ausnahme der flachen Uferzonen – darstellen. Diese grosse und diversifizierte Biomasse stellt seit jeher eine lokale und nachhaltige Nahrungsressource für den Menschen dar. Die Erforschung der Felchenartenvielfalt in den letzten zwei Jahrzehnten hat unser Verständnis darüber verbessert, wie diese Vielfalt entstanden ist, wie sie ökologisch und genetisch strukturiert ist, und warum viele Arten in den vergangenen 80 Jahren ausgestorben sind. Die neuen Erkenntnisse zeigen, dass für den Erhalt der verbleibenden Artenvielfalt und einer langfristig nachhaltigen fischereilichen Nutzung der Felchen die Mechanismen und Umweltbedingungen berücksichtigt werden müssen, die zur Entstehung der Artenvielfalt geführt haben. Der Schutz der Artenvielfalt und der damit verbundenen ökologischen Vielfalt der Felchen innerhalb eines Sees trägt dazu bei, das natürliche Ertragspotenzial des Sees als Nahrungsquelle für den Menschen zu erhalten. Die Untersuchungen haben auch aufgezeigt, dass das bestehende Fischereimanagement teilweise überdacht und neue Ansätze entwickelt werden sollten. Zudem müssen Wissenslücken, beispielsweise im Bereich der Ökologie vieler Felchenarten, geschlossen werden, um auch zukünftig in veränderten Seeökosystemen (z. B. mit Klimawandel und invasiven Neozoen) wissensbasiert handeln zu können. Nur so kann die Artenvielfalt langfristig erhalten und nachhaltig genutzt werden. 1 Résumée La biodiversité des corégones dans les lacs suisses est unique. Elle s’est développée au cours des quelque 15’000 dernières années et joue un rôle central dans ces écosystèmes, car les espèces de corégones constituent de loin la plus grande biomasse de poissons des lacs, à l’exception des zones riveraines peu profondes. Cette biomasse importante et diversifiée constitue depuis toujours une ressource alimentaire locale et durable pour l’homme. Les études de la diversité des espèces de corégones au cours des deux dernières décennies ont amélioré notre compréhension de la manière dont cette diversité s’est formée et pourquoi de nombreuses espèces se sont éteintes au cours des 80 dernières années. Ces nouvelles connaissances montrent que pour préserver cette biodiversité et afin d’assurer une exploitation halieutique durable à long terme, il faut tenir compte des mécanismes et des conditions environnementales qui ont conduit à l’apparition de ces espèces. Seule la protection de cette diversité permettra de préserver le potentiel de rendement naturel des lacs en tant que ressource alimentaire pour l’homme. Les études ont également montré qu’il est nécessaire de repenser en partie la gestion actuelle de la pêche des corégones et de développer de nouvelles approches. Afin de pouvoir agir à l’avenir sur la base de connaissances scientifiques solides face à des écosystèmes lacustres modifiés (par le changement climatique et les néozoaires envahissants, p. ex.), il faut combler les lacunes, notamment dans le domaine de l’écologie de nombreuses espèces de corégones. Ce n’est qu’ainsi que la biodiversité pourra être préservée à long terme et utilisée de manière durable pour la pêche.

8 Felchenvielfalt in Seen der Schweiz – Schlussbericht 2025 9 Felchenvielfalt in Seen der Schweiz – Schlussbericht 2025 2 Einführung 2.1 Ausgangslage und Ziele des Berichts Die Schweizer Seen beherbergen eine europaweit einzigartige Vielfalt (Abbildung 2.1) von insgesamt 24 (ursprünglich mindestens 34) genetisch, morphologisch und ökologisch unterscheidbaren Felchenarten. Alle diese Arten kommen weltweit ausschliesslich in Seen vor, die in der Schweiz liegen und zum Teil mit unseren Nachbarländern geteilt werden. Die Schweiz trägt deshalb eine grosse Verantwortung für den Erhalt dieser endemischen Artenvielfalt [1]. Die Felchen sind aber nicht nur aus der Sicht des Artenschutzes wichtig. Aus fischereilicher Sicht sind sie sowohl für die Berufsfischerei als auch für die Angelfischerei von grosser Bedeutung. Ihr Anteil am Gesamtfang der Angel- und Berufsfischerei in der Schweiz betrug in den letzten zwei Jahrzehnten circa 25 % bzw. 60 % (Quelle: www.fischereistatistik.ch). Die Felchenbestände stellen eine ökologisch vielfältige natürliche Ressource dar, welche die Natur dem Menschen zur Verfügung stellt. Die Felchenarten nehmen eine zentrale Rolle in den Ökosystemen der Seen ein, stellen sie doch mit Abstand die grösste Biomasse im offenen Wasser (Pelagial) und in den tieferen Seezonen [2]. Im Verlauf der letzten 150 Jahren ist jedoch ein wesentlicher Teil dieser einzigartigen Artenvielfalt durch menschliche Einflüsse verloren gegangen. Auch wurden Felchenarten durch Besatztätigkeiten in Seen eingeführt, in denen sie ursprünglich nicht vorkamen. Die Anzahl der Felchenarten, die pro See historisch vorkamen, ist je nach Gewässer sehr unterschiedlich. In den Mittellandseen gab es oft nur eine, wahrscheinlich nie mehr als drei Felchenarten. In den grösseren und tieferen Alpenrandseen, wie z. B. dem Thunersee, leben heute noch bis zu sechs bekannte Felchenarten [3]. Trotz der grossen morphologischen Vielfalt, weisen einige Felchenarten grosse morphologische Ähnlichkeiten auf, sodass sie schwer voneinander zu unterscheiden sind. Dies gilt sowohl für Arten die gemeinsam in einem See vorkommen als auch für Felchenarten aus verschiedenen Seen. Dies hat dazu geführt, dass sich in den letzten zwei Jahrhunderten mehrere Forscher daran versucht hatten, die Felchenvielfalt in Arten aufzuteilen und diese taxonomisch zu beschreiben. Die daraus resultierenden Publikationen kamen oft zu unterschiedlichen Einteilungen, u.a. auch weil Forschungen bis vor 25 Jahren ohne molekulargenetische Methoden auskommen mussten. Die sich daraus ergebenden taxonomischen Unsicherheiten erschwerten aber die Bewirtschaftung und den Schutz dieser Arten, ein Problem, das von artenreichen Artgruppen generell, einschliesslich anderer Fische, bekannt ist. Diese Situation führte auch dazu, dass in der Schweizer Gesetzgebung bisher die Vielfalt der Felchenarten nur summarisch berücksichtigt wurde. Im Anhang 1 der Verordnung zum Bundesgesetz über die Fischerei (VBGF, SR 923.01) sind die Felchen als Artengruppe (Coregonus spp.) aufgeführt. Ein Gefährdungsstatus für die einzelnen Felchenarten ist nicht definiert. Obwohl diese Problematik typisch für besonders artenreiche Tierartengruppen ist, stellt sie eine Belastungsprobe für den Schutz der Biodiversität dar. In den letzten zwei Jahrzehnten wurde in der Schweiz wieder intensiv über die Artenvielfalt der Felchen geforscht. Dabei wurden neben morphologischen neu auch genetische Methoden eingesetzt. Diese ermöglichten ein besseres Verständnis der Artenstruktur innerhalb von Seen und der Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den verschiedenen Arten, und damit auch zu den ökologischen und evolutionären Prozessen, die zu ihrer Entstehung und Erhaltung notwendig waren und notwendig sind. Diese Arbeiten haben auch dazu geführt, dass im aktuellen Schweizer Fischatlas, der 2018 erschienen ist, und in der Roten Liste der Fische und Rundmäuler der Schweiz, die 2022 erschienen ist, erstmals die in der internationalen Fachliteratur beschriebene Artenvielfalt der Schweizer Felchen aufgelistet wurde [4, 5]. Wobei der Fischatlas keinen artspezifischen Gefährdungsstatus angibt und die Rote Liste der Fische und Rundmäuler nur im Anhang einen Gefährdungsstatus empfiehlt. In der neuesten europäischen Roten Liste der Süsswasserfische sind die Schweizer Felchenarten nicht nur im Anhang, sondern offiziell als gefährdete Arten aufgeführt (www.iucn.org). Die meisten Arten werden als gefährdet eingestuft, einige aber als stark gefährdet. Die Berücksichtigung und der Schutz dieser Artenvielfalt sind Voraussetzung, um die Bestände der verschiedenen Felchenarten fischereilich nachhaltig nutzen zu können. Dafür müssen die Vielfalt und die Gefährdung der einzelnen Arten ausreichend bekannt sein. Dazu müssen die in den letzten Jahren gewonnen wissenschaftlichen Erkenntnisse dem Gewässermanagement für die Bewirtschaftung und Nutzung zur Verfügung gestellt werden. Dies ist auch im Sinne des Aktionsplans der Strategie Biodiversität der Schweiz [6]. Die Bundesverfassung verpflichtet Bund und Kantone, für die dauerhafte Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen zu sorgen und dabei die natürliche Umwelt des Menschen vor schädlichen Einwirkungen zu schützen (Art. 2 und 78 der Bundesverfassung). Ein besonderes Augenmerk gilt dabei den Ökosystemleistungen, welche die Biodiversität für den Menschen erbringt. Die Felchen sind ein lokales Paradebeispiel dafür, wie die Biodiversität sowohl eine Schlüsselfunktionen im Ökosystem als auch ein geschätztes Nahrungsmittel für den Menschen zur Verfügung stellt. Eine Reduktion oder ein Verlust dieser Artenvielfalt kann verschiedene wichtige Ökosystemleistungen beeinträchtigen, wie z. B. zu einem Verlust der natürlichen fischereilichen Produktivität der Seen führen [7] (Grafik siehe folgende Doppelseite). EINFÜHRUNG EINFÜHRUNG

10 Felchenvielfalt in Seen der Schweiz – Schlussbericht 2025 11 Felchenvielfalt in Seen der Schweiz – Schlussbericht 2025 EINFÜHRUNG EINFÜHRUNG Abb. 2.1: Darstellung der Felchenvielfalt, die aus den Seen der Schweiz bis heute beschrieben wurde. Es wird nur die natürliche Verbreitung jeder Art gezeigt. Ausgestorbene Arten sind als rote Fische dargestellt und ausgestorbene Populationen einer andernorts noch teilweise existierenden Felchenart sind als orange Fische dargestellt. Die Grösse der abgebildeten Fische symbolisiert die Grössenunterschiede zwischen den Arten.

12 Felchenvielfalt in Seen der Schweiz – Schlussbericht 2025 13 Felchenvielfalt in Seen der Schweiz – Schlussbericht 2025 2.2 Rechtliche Grundlagen In der Schweiz lebt europaweit eine einmalige Vielfalt an endemischen Felchenarten [8, 9], für deren Fortbestehen die Schweiz eine ganz besondere Verantwortung trägt. Gemäss Zweckartikels des Bundesgesetzes über die Fischerei (Art. 1 Abs. 1 Bst. a BGF, SR 923.0) sollen die natürliche Artenvielfalt, der Bestand an einheimischen Fischen, Krebsen und Fischnährtieren und deren Lebensräume erhalten, verbessert oder soweit möglich wiederhergestellt werden. Die Kantone regeln die nachhaltige Nutzung der Bestände (Art. 3 Abs. 1 BGF) und sorgen dafür, dass die natürliche Artenvielfalt der Fische und Krebse erhalten bleibt (Art. 3 Abs. 1 Bst. a BGF). Der Bund erlässt Bestimmungen über die Dauer der Schonzeiten und über die Fangmindestmasse (Art. 4 Abs. 1 Bst. a-b BGF) und bezeichnet die gefährdeten Fisch- und Krebsarten (Art. 5 Abs. 1 BGF). Die Kantone ergreifen die erforderlichen Massnahmen zum Schutz der Lebensräume von gefährdeten Arten (Art. 5 Abs. 2 BGF). Zudem sind die Kantone gemäss der Verordnung zum Bundesgesetz über die Fischerei (VBGF, SR 923.01) verpflichtet, die Gewässerabschnitte auf ihrem Gebiet zu bezeichnen, in denen Fische und Krebse mit dem Gefährdungsstatus 1 – 3 leben (Art. 10 Abs. 1 VBGF). Für den Vollzug der gesetzlichen Vorgaben ist es deshalb erforderlich, die Artenvielfalt der Schweizer Seen und deren Gefährdungsstatus zu kennen. Dazu müssen die einzelnen Felchenarten beschrieben und deren Gefährdungsstatus definiert werden. Bis heute werden alle Felchenarten im Anhang 1 der VBGF unter einem einzigen, allgemein gültigen Gefährdungsstatus geführt (4, E: potenziell gefährdet, europäisch geschützt nach der Berner Konvention). Neben der wissenschaftlichen und taxonomischen Literatur [8, 10] differenziert bisher nur der Schweizer Fischatlas und die Rote Liste der gefährdeten Fische und Rundmäuler der Schweiz [4, 5] zwischen den einzelnen Felchenarten, ersterer ohne artspezifischen Gefährdungsstatus und letztere nur im Anhang mit einer Gefährdungsstatusempfehlung. In der neuesten europäischen Roten Liste der Süsswasserfische, die voraussichtlich 2025 publiziert wird, werden die Schweizer Felchenarten nicht nur im Anhang, sondern offiziell als gefährdete Arten aufgeführt (www.iucn.org). Die meisten Arten werden als gefährdet eingestuft, einzelne aber als stark gefährdet. 2.3 Zielvorgaben Aufgrund der gesetzlichen Vorgaben sowie der in den letzten 20 Jahren erzielten Fortschritte in der Forschung zur Artenvielfalt der Schweizer Felchen, ist es notwendig, den aktuellen Wissenstand über die Artenvielfalt der Felchen zusammenzutragen und den betroffenen Akteuren zugänglich zu machen. Zudem soll geklärt werden, welche Auswirkungen diese neuen Erkenntnisse auf den Schutzstatus und die Bewirtschaftung der Felchen haben. Die Eawag hat mit finanzieller Unterstützung des BAFU die Taxonomie der Schweizer Felchen aktualisiert. Zudem wurden die Forschungsergebnisse der letzten 150 Jahren zur Taxonomie, Ökologie, fischereilicher Nutzung und Bewirtschaftung der Felchen zusammengefasst. Übergreifende Themenbereiche, die alle Seen betreffen, werden in diesem Bericht behandelt. Zusätzlich werden in den seespezifischen Berichten alle Felchenarten und die Bewirtschaftung der Felchen des jeweiligen Sees oder Seen-Systems detailliert behandelt. Folgende Ziele sollen mit dem vorliegenden Bericht erreicht werden: • Zusammenstellung des Wissens über die Entstehung und Entwicklung der einzigartigen Artenvielfalt der Felchen in den Schweizer Gewässern (dieser Bericht). • Ausführliche Zusammenfassung des heutigen Wissens über die einzelnen Felchenarten. Dies beinhaltet die Abhandlung der Arten (Taxonomie), beleuchtet aber auch Themen zur Ökologie, Bewirtschaftung und fischerei- lichen Nutzung der einzelnen Arten und deren Gefährdungsstatus (dieser Bericht und seespezifische Berichte). • Zur Verfügungsstellung, soweit möglich, von seespezifischen Bestimmungsschlüsseln für die Felchenarten der Schweiz (seespezifische Berichte). • Formulierung von Empfehlungen zum langfristigen Schutz der Artenvielfalt der Felchen (Empfehlungen zum Artenschutz sowie zur nachhaltigen Bewirtschaftung der Felchenarten in den jeweiligen Gewässern wurden seitens der Wissenschaft erstellt und werden nun gemeinsam mit Bund und Kantonen konsolidiert. Diese Empfehlungen werden nachträglich in die seespezifischen Berichte integriert. Zusätzlich wird ein zusammenfassender Empfehlungsbericht veröffentlicht.). 3 Felchenvielfalt in der Schweiz 3.1 Heutige Verbreitung Die Felchenartigen (Coregoninae) bilden eine der drei Unterfamilien der Lachsfische (Salmonidae). Die Felchenartigen sind eine der phänotypisch und ökologisch vielfältigsten Gruppen von Süsswasserfischen der nördlichen Breitengrade. Die Unterfamilie ist in drei Gattungen unterteilt: die Gattung Stenodus (fischfressende Arten), die Gattung Prosopium (überwiegend Arten, die sich benthisch ernähren) und die ökologisch sehr variable Gattung Coregonus [11]. Die Gattung Coregonus umfasst alle in der Schweiz vorkommenden Felchenarten. Die Verbreitungsgebiete der Gattungen Prosopium und Stenodus sind wesentlich kleinräumiger als die der Gattung Coregonus. Die Gattungen Prosopium und Stenodus sind in kalten Gewässern Nordamerikas, Ostrusslands und des kaspischen Meeres beheimatet, während die Gattung Coregonus eine holarktische Verbreitung aufweist und in kalten Gewässern der gesamten Halbkugel nördlich des 40. Breitengrades zu finden ist. Der nördliche Alpenraum entspricht in Europa der südlichen Verbreitungsgrenze und ist von dem weiter nördlich gelegenen Hauptverbreitungsgebiet der Gattung (in Skandinavien und der Ostsee) durch ein grosses Gebiet getrennt, in dem keine Felchen vorkommen. In diesem Gebiet sind Felchen höchst wahrscheinlich während der holozänen Erwärmung ausgestorben. Felchen besiedeln sowohl grosse Seen als auch Fliessgewässer. Einige Arten, z.B. der Nordseeschnäpel, sind wie Lachse anadrom (Fische die ihr Erwachsenenleben im Salzwasser verbringen, aber zum Laichen ins Süsswasser schwimmen) und leben sogar im offenen Wattenmeer [12]. In der Schweiz kommen Felchen natürlicherweise in allen grösseren Seen auf der Alpennordseite vor (Abbildung 3.1). Dazu gehören im Rheineinzugsgebiet der Schweiz: • Baldeggersee • Bielersee • Bodensee • Brienzersee • Greifensee • Hallwilersee • Lac de Morat • Lac de Neuchâtel • Pfäffikersee • Sarnersee • Sempachersee • Thunersee • Vierwaldstättersee • Walensee • Zürichsee • Zugersee Auch die Alpenrandseen des Donaueinzugsgebiet in Deutschland und Österreich wurden von Felchen natürlich besiedelt. Darüber hinaus konnten Felchen einige Seen im Einzugsgebiet der Rhône natürlich besiedeln. Dazu gehören: • Léman • Lac de Bourget • möglicherweise der Lac de Annecy EINFÜHRUNG

14 Felchenvielfalt in Seen der Schweiz – Schlussbericht 2025 15 Felchenvielfalt in Seen der Schweiz – Schlussbericht 2025 Felchen werden gelegentlich auch in den grösseren Flüssen der Schweiz nachgewiesen: Einige Felchenarten können in den Flüssen leben und zu adulten Tieren heranwachsen, wie Beobachtungen in der Aare und im Rhein zeigen [4]. Während der Laichzeit wandern einige Felchenarten auch von Seen in Zuflüsse, um sich im Fluss oder in deren Mündungsbereichen fortzupflanzen. Dies wurde in mehreren Seen beobachtet. Die Felchenlarven weisen nach dem Schlupf nur eine sehr geringe Schwimmkraft auf und werden höchstwahrscheinlich durch die Strömung flussabwärts verdriftet. Historisch kamen solche Wanderungen von Felchen in Zuflüsse von Seen häufiger vor. In folgenden grösseren Fliessgewässern wurden in der Schweiz in den letzten Jahren Felchen nachgewiesen [4]: • Aare • Areuse • Limmat • Linthkanal • Rhein • Reuss • Rhône Schliesslich wurden einzelne Felchenarten vom Menschen in Seen eingeführt, in denen Sie natürlicherweise nicht vorkamen und in denen sie sich etabliert haben. Dabei handelt es sich um: • Ägerisee • Lac de Joux • Lago di Lugano • Lago Maggiore • Lungernsee Abb. 3.1: Verbreitung der Felchen in der Schweiz gemäss Fischatlas der Schweiz [4] © info fauna – CSCF, swisstopo. Rote Punkte zeigen Vorkommen, die seit dem Jahr 2000 nachgewiesen wurden. Orangene Punkte sind Vorkommen, die nur bis zum Jahr 2000 nachgewiesen wurden. Vorkommen in den Seen sind vereinfacht mit nur einem oder wenigen Punkten dargestellt, obwohl Felchen innerhalb der Seen räumlich weit verbreitet vorkommen. Abb. 3.2: Ausdehnung der Gletscher in der Schweiz zur Würmeiszeit (vor ca. 25 000 Jahren). Ausschnitt aus einer Simulation der ETHZ: https://ethz.ch/de/news-und-veranstaltungen/eth-news/news/2018/11/eiszeitensimulation-macht-gletscherausdehnung-sichtbar.html. 3.2 Besiedlungsgeschichte In den letzten 700000 Jahren wurde die Verbreitung der Fische im Alpenraum durch mehrere Episoden der Vergletscherung beeinflusst, wobei wiederholt grosse Gebiete von Eis bedeckt waren. Die Felchen überlebten diese Eiszeiten in den nichtvergletscherten Gebieten Europas [11]. In wärmeren Phasen – wenn sich die Gletscher wieder zurückzogen – wanderten die Felchen wieder ein und besiedelten die neu entstandenen Gewässer. Das letzte Mal geschah dies vor etwa 15 000 – 20 000 Jahren nach der Würmeiszeit [13, 14]. Bis zu diesem Zeitpunkt war praktisch die ganze Schweiz von Eis bedeckt (Abbildung 3.2). Die uns heute bekannten Seen existierten vor dem Ende der letzten Eiszeit noch nicht und entstanden erst nach dem Rückzug der Gletscher. Es gab jedoch wahrscheinlich schon vor den grossen Gletschern Seen. Die heute in der Schweiz vorkommenden Fische konnten die heutigen Seen erst nach dem Rückzug der Gletscher besiedeln. Als Wander- und Ausbreitungsrouten nutzten Felchen Fliessgewässer wie Rhein, Aare, Limmat oder Reuss. Sie waren aber auch in der Lage, Wasserscheiden zu überqueren, also von einem Einzugsgebiet in ein anderes zu gelangen. Dies war vermutlich möglich, weil Gletschergewässer beim Rückzug der Gletscher ihr Einzugsgebiet oder ihre Fliessrichtung änderten. So entwässerte der Rhônegletscher früher auch in den Rhein und verlor die Rheinverbindung erst im Verlauf des Gletscherrückzugs, so dass er heute ausschliesslich über die Rhône ins Mittelmeer entwässert. Zudem konnten sich am Rand der Gletscher Seen bilden, deren Lage sich immer wieder änderte und die so ebenfalls zur Ausbreitung der Felchen beigetragen haben könnten [15].

16 Felchenvielfalt in Seen der Schweiz – Schlussbericht 2025 17 Felchenvielfalt in Seen der Schweiz – Schlussbericht 2025 Die Besiedlungsgeschichte der Felchen im Alpenraum wurde mit genetischen Methoden detailliert untersucht. Dabei konnte gezeigt werden, dass die in der Schweiz lebenden Felchen von einer einzigen «Urfelchenart» abstammen [16]. Diese «Urfelchenart» wies wiederum genetische Eigenschaften auf, die aus zwei unterschiedlichen älteren eiszeitlichen Refugien stammten. Ein Refugium lag im nördlichen und östlichen Europa (blau in Abbildung 3.3) und das andere im westlichen Mitteleuropa (rot in Abbildung 3.3). Die Felchen aus diesen beiden eiszeitlichen Refugien haben sich wahrscheinlich schon vor der Besiedlung des Alpenraumes genetisch vermischt und dabei einen so genannten Hybrid-Schwarm gebildet, d.h. eine hybride Felchenart, die die genetische Vielfalt der beiden Ursprungsarten in sich vereint. Aus DNA-Analysen an subfossilen Knochenfunden ist bekannt, dass die genetischen Anteile beider Linien bereits vor 5 000 Jahren in der Schweiz vorkamen [17]. Genetische Untersuchungen zeigen, dass die heutige Artenvielfalt der Felchen in den Schweizer Seen erst nach der Wiederbesiedlung der Gewässer vor Ort entstanden ist [16]. Sie ist also das Ergebnis einer vielfältigen und schnellen Artbildung, bei der sich in den einzelnen Seen vor Ort aus einer «Urfelchenart» viele neue Arten mit unterschiedlichen ökologischen Anpassungen entwickelt haben [16, 18]. Abb. 3.3: Genetischer (Mitochondriale DNA-Haplotypen) Stammbaum (links) und Anteil der Individuen pro See und Felchenart (rechts), deren mitochondriale DNA aus den beiden Refugien (Rot: westliches Refugium; Blau: nordöstliches Refugium) stammt [16]. 3.3 Was ist eine Art Bevor die Prozesse der Artbildung betrachtet werden, die zu dieser einzigartigen Vielfalt geführt haben, soll zunächst das Artkonzept erläutert werden, das zur Beschreibung der Felchenarten herangezogen wird. Artbildung ist in der Regel ein gradueller Prozess. Neue Arten entwickeln sich meist allmählich durch eine zunehmende Differenzierung einzelner Populationen aus einer Ursprungsart. Dies geht mit einer abnehmenden Häufigkeit von Verpaarungen zwischen Individuen der einzelnen Populationen einher, bis sich genetisch differenzierte Arten bilden. Letztere entsprechen der Definition des biologischen Artbegriffs (siehe unten). Die Art ist die Grundeinheit der biologischen Systematik. Jede biologische Art ist ein Resultat von Artbildung. Aufgrund der graduellen und hochdimensionalen Natur des Artbildungsprozesses ist eine auf alle Situationen zutreffende Definition der „Art“ nicht möglich, welche die theoretischen und praktischen Anforderungen aller biologischen Teildisziplinen gleichermassen erfüllen würde [19]. Daher werden in der Praxis je nach wissenschaftlicher Disziplin leicht unterschiedliche Artkonzepte verwendet, die manchmal auch zu unterschiedlichen Klassifizierungen führen können. Die meisten Wissenschaftler wenden das biologische Artkonzept an [20]. Demnach wird eine Art wie folgt definiert [21]: Eine Art ist eine Gruppe von Individuen und natürlichen Populationen, unter denen freier Genaustausch stattfindet oder stattfinden würde, wenn sie im selben Gebiet vorkommen würden. Individuen oder Populationen gehören zu unterschiedlichen Arten, wenn zwischen ihnen in der Natur normalerweise auch dann kein freier Genaustauch stattfindet, wenn sie im gleichen Gebiet vorkommen und also keine geografischen Barrieren den Genaustausch verhindern (es besteht also eine reproduktive Isolation die unabhängig von der Geografie ist). Die Mechanismen, die zu dieser teilweisen oder vollständigen reproduktiven Isolation führen, sind vielfältig und werden im Folgenden an einigen Beispielen erläutert: • Es kann sich um genetisch bedingte Inkompatibilitäten in der Entwicklung der Embryonen handeln, die im Extremfall dazu führen, dass keine lebensfähigen Nachkommen entstehen. • Falls doch Nachkommen entstehen, können diese unter Umständen unfruchtbar sein. • Es können aber auch fruchtbare Nachkommen entstehen, die jedoch Eigenschaften aufweisen, die ihnen in der Natur eine geringere Überlebensfähigkeit verleihen (z. B. indem sie weniger gut an die gegebene Umwelt angepasst sind). Die geringere Überlebensfähigkeit der Nachkommen schränkt den Genaustausch stark ein, es besteht also eine reproduktive Isolation. • Schliesslich, und dies ist für die Artbildung der Felchen besonders wichtig, können auch ökologische Anpassungen oder sexuelle Selektion zu reproduktiver Isolation führen. Wenn sich also zwei Populationen nicht oder kaum miteinander fortpflanzen, weil sie unterschiedliche Laichhabitate aufsuchen oder zu unterschiedlichen Zeiten im Jahr laichen (ökologische Anpassungen) oder unterschiedliche Präferenzen bei der Partnerwahl haben (sexuelle Selektion), obwohl sie im gleichen Lebensraum leben, dann handelt es sich ebenfalls um biologische Arten [22]. Alle diese Mechanismen führen zu einer teilweisen oder vollständigen Unterbrechung des freien Genflusses zwischen Populationen und damit zu einer Zunahme von genetischen Unterschieden zwischen den Arten. Genetische Unterschiede können aber auch innerhalb einer Art entstehen, wenn zwei Populationen räumlich voneinander isoliert sind. Im Laufe der Zeit können sich solche geographischen Populationen zu eigenständigen Arten entwickeln. Im Falle der Felchen ist die Situation deshalb oft eindeutig, da mehrere Arten gemeinsam im selben See vorkommen. Wenn Populationen im selben See leben, aber genetische Unterschiede an vielen Genabschnitten aufweisen, also weitgehend reproduktiv isoliert sind voneinander, handelt es sich um unterschiedliche biologische Arten. Genetische Unterschiede zwischen Arten gehen oft mit Unterschieden im Erscheinungsbild einher, d.h. sympatrische Arten sind oft phänotypisch und ökologisch unterscheidbar. Das liegt daran, dass Anpassung an ökologische Nischen mit gegensätzlichen Anforderungen an den Phänotyp oftmals eine Ursache der Artbildung war. Es kann aber auch vorkommen, dass Arten genetisch unterscheidbar sind, ohne dass dem Betrachter äusserliche Unterschiede auffallen (sogenannte «kryptische Arten»). Genetische Analysen schärfen demzufolge den Blick. Bei anschliessenden genaueren Untersuchungen können oft doch morphologische oder ökologische Unterschiede zwischen solchen Arten ausgemacht werden. 3.4 Neue Felchenarten durch ökologische Artbildung Die Schweiz wurde nach der letzten Eiszeit wahrscheinlich nur von einer «Urfelchenart» besiedelt, die sich in den Schweizer Seen in mehrere Arten aufspaltete [16, 18]. Die Mechanismen, die zu dieser raschen Artbildung führten, sind komplex. Der gesamte Prozess, der dabei abläuft, kann als ökologische Artbildung zusammengefasst werden. Wenn dabei viele verschiedene Arten entstehen, spricht man von einer „adaptiven Radiation“. Das Konzept der ökologischen Artbildung geht, genauso wie das biologische Artkonzept, auf die Arbeiten von Ernst Mayr von 1942 [21] und Theodosius Dobzhansky von 1937 zurück [23]. Dobzhansky ging davon aus, dass die Artbildung bei Fruchtfliegen auf Anpassungen an die Umwelt zurückgeführt werden kann. Erst mit neuen genetischen Methoden und Modellierungen konnte dieser Mechanismus der Artbildung besser verstanden werden [24, 25].

18 Felchenvielfalt in Seen der Schweiz – Schlussbericht 2025 19 Felchenvielfalt in Seen der Schweiz – Schlussbericht 2025 Bei der ökologischen Artbildung entsteht die reproduktive Isolation zwischen zwei Arten als Resultat einer auf Besiedlung von ökologischen Nischen mit gegensätzlichen Anforderungen zurückzuführenden divergierenden natürlichen Selektion [22, 25]. Damit eine ökologische Artbildung stattfinden kann, müssen also bestimmte Bedingungen erfüllt sein [26]: • Es braucht eine ökologisch bedingte Quelle von divergierender natürlicher Selektion. Dies ist z.B. der Fall, wenn sich zwei Populationen derselben Art in der Natur an zwei unterschiedliche ökologische Nischen anpassen. • Es braucht die genetische Grundlage für ökologische Anpassung (z.B. genügend genetische Vielfalt). • Eine Form der reproduktiven Isolation zwischen zwei Populationen muss sich im Laufe der Zeit entwickeln (z.B. getrennte Laichgebiete und/oder Partnerwahl). • Es braucht einen genetisch vererbbaren Mechanismus, der die unterschiedlichen ökologischen Anpassungen mit einer Form von reproduktiver Isolation genetisch verbindet. Es sind also genetische Eigenschaften erforderlich, auf die die divergierende Selektion einwirken kann und die sich auch auf die reproduktive Isolation auswirken. Kasten 1: Fiktives Beispiel für die ökologische Artbildung bei Felchen In diesem Beispiel besiedelt eine Fischart einen See neu, wobei den Fischen zwei unterschiedliche Nahrungsressourcen zur Verfügung stehen. Einerseits Zooplankton, das sehr klein ist und schwebend im Wasser lebt und anderseits Makrozoobenthos, das deutlich grösser ist und im Sediment des Seegrunds lebt. Damit die Fische das Zooplankton effizient fressen können, brauchen sie viele, lange und dichtstehende Kiemenreusendornen (dornartige Fortsätze auf der Innenseite der Kiemenbögen, durch die das über den Mund aufgenommene Wasser aus den Kiemen wieder ausströmt). Um Makrozoobenthos aus dem Sediment heraussieben zu können, benötigen sie dagegen wenige, robuste und damit kurze Kiemenreusendornen, da feine Dornen vom Sediment beschädigt würden. Die neu in den See eingewanderte Fischart hat anfangs eine mittlere Anzahl mässig langer Kiemenreusendornen (Abbildung 3.4, links). Damit sind diese Fische weder für das Fressen von Zooplankton noch für die Aufnahme von Makrozoobenthos optimal angepasst. Das es aber individuelle Variationen gibt, setzt die divergierende natürliche Selektion ein. Da jene Felchen besonders gut wachsen, überleben und sich fortpflanzen, die entweder besonders viele lange Kiemenreusendornen oder aber besonders wenige und robuste Kiemenreusendornen haben und die sich daher besonders erfolgreich entweder von Zooplankton oder von Makrozoobenthos ernähren können, und da Anzahl und Struktur der Dornen vererbt werden, nehmen beide Extremvarianten über die Generationen zu. Dadurch werden Felchen mit wenigen robusten und solche mit vielen langen Kiemenreusendornen mit der Zeit immer häufiger in der gesamten Population, und solche mit mittleren Kiemenreusendornen werden weniger. Wichtig dabei, Anzahl und Struktur der Kiemenreusendornen sind genetisch bedingt. D.h. die Eltern vererben ihre Eigenschaften an die Nachkommen. Dies führt nach einiger Zeit der divergierenden Selektion zu einer bimodalen Verteilung der Anzahl von Kiemenreusendornen bei den Fischen in diesem See (Abbildung 3.4, Mitte). Sind die Fische einmal an die gegensätzlichen Nahrungsressourcen angepasst, wird dieser Zustand durch eine stabilisierende natürliche Selektion beibehalten. Hybriden aus Individuen mit wenigen und solchen mit vielen Kiemenreusendornen können zwar entstehen, haben aber in der Regel schlechtere Überlebens- und Fortpflanzungschancen, da sie weniger effizient sowohl im Fressen von Plankton als auch Benthos sind. In diesem fiktiven Beispiel könnte ein reproduktives Diskontinuum als Beiprodukt der morphologischen Anpassung entstehen, wenn die Morphologie einen Einfluss auf die Partnerwahl hätte. Bei Kiemenreusendornen ist dies nicht direkt, wohl aber indirekt der Fall. Die makrozoobenthos-fressenden Fische mit wenigen Kiemenreusendornen wachsen sehr rasch und werden gross, während die plankton-fressenden Fische mit vielen Kiemenreusendornen kleiner bleiben. Da die Grösse eine wichtige Rolle bei der Partnerwahl dieser Fische spielt, pflanzen sich die Individuen der beiden Populationen kaum noch miteinander fort. Gemäss dem biologischem Artkonzept werden diese beiden Populationen, wenn sie im selben See vorkommen, als zwei eigenständige Arten betrachtet (Abbildung 3.4, rechts). Damit ist ein einfacher und plausibler Weg beschrieben, wie ökologische Artbildung nach dem biologischen Artkonzept bei Fischen ablaufen könnte. Die Realität ist oft viel komplexer, da die Richtung und Intensität von Selektion über die Zeit variieren können und auch andere nicht selektive Faktoren eine Rolle spielen. Ausserdem führt die Evolution nicht immer zu Artbildung, sondern es kann auch innerartliche Variation, sogenannte Polymorphismen, entstehen, wenn alternative Anpassungen in einer einzigen Population auftreten ohne reproduktive Isolation zu bedingen. Abb. 3.4: Fiktives Beispiel, wie die ökologische Artbildung ablaufen könnte: Aus einer Art (links), die zwei verschieden verteilte Ressourcen nutzt, entwickeln sich zwei Phänotypen und schliesslich zwei eigenständige Arten (rechts). Abb. 3.5: Oben: Adulter Grunder (C. duplex) und unten: Adulter Hägling (C. heglingus) vom Walensee. 3.4.1 Beispiel Walensee: klare Differenzierung zweier Arten Wie im fiktiven Beispiel vereinfacht dargestellt, könnte es den Felchen in den Schweizer Seen nach der Wiederbesiedelung vielleicht tatsächlich ergangen sein. Die nach der Eiszeit von Felchen wiederbesiedelten Seen wiesen eine grosse Vielfalt an ökologischen Nischen auf, die von anderen Fischen nicht genutzt wurden. Die Felchen gehörten wahrscheinlich zu den ersten einwandernden Fischen. Zudem sind sie sehr anpassungsfähig, können sich in sehr kaltem Wasser fortpflanzen und auch in ewig dunkle, nährstoffarme Tiefen vordringen. Während die meisten Nischen im Uferbereich von anderen Fischarten besetzt wurden, die ebenfalls nach der Eiszeit wieder einwanderten, konnten die Felchen grosse Bereiche der tiefen Seen, sowohl im Pelagial (Offenwasserzone eines Sees) als auch im Profundal (Tiefenzone eines Sees) besetzen. Damit begannen auch die Prozesse der phänotypischen Diversifizierung und der Artbildung. Am Beispiel der Felchenarten des Walensees lässt sich dies sehr gut illustrieren. Im Walensee kommen heute mindestens zwei Felchenarten vor (Abbildung 3.5). Der Hägling (Coregonus heglingus) und der Grunder (C. duplex). Der Zürichsee und der Walensee bildeten früher zusammen einen grossen See, in dem drei Felchenarten entstanden. Als sich dieser grosse See dann in den heutigen Zürich- und Walensee teilte, kamen die drei Arten in beiden Seen vor. Eine der drei Arten, der Blaalig (auch Bratfisch oder Schweber genannt; C. zuerichensis), ist heute allerdings nur noch im Zürichsee häufig, im Walensee konnte die Art seit fast einem Jahrhundert nicht mehr nachgewiesen werden und gilt daher lokal als ausgestorben [27]. Der Einfachheit halber werden hier nur die beiden erstgenannten Arten aus dem Walensee betrachtet und die lokalen Namen Hägling für C. heglingus und Grunder für C. duplex verwendet.

20 Felchenvielfalt in Seen der Schweiz – Schlussbericht 2025 21 Felchenvielfalt in Seen der Schweiz – Schlussbericht 2025 Hägling und Grunder unterscheiden sich morphologisch [26] und genetisch [16, 18, 28] deutlich voneinander. Am stärksten zeigt sich dies am Wachstum, an der Grösse für ein gegebenes Alter und an der Anzahl Kiemenreusendornen (Abbildung 3.6). Die beiden Arten wachsen unterschiedlich schnell. Der Grunder ist mit fünf Jahren zwischen 30–40 cm gross. Der Hägling nur 15–20 cm (Abbildung 3.7). Fünfjährige Fische mit Grössen dazwischen gibt es keine. Die Anzahl Kiemenreusendornen liegt beim Grunder bei 21–30 und beim Hägling bei 33–39. In diesen beiden Merkmalen können die beiden Arten also eindeutig unterschieden werden. Ausserdem unterscheiden sie sich in der relativen Grösse der Augen und der Kopflänge und in der Flossen- und Rückenfärbung. Wie konnten diese Unterschiede entstehen? Eine Erklärung findet sich, wenn man die Funktion der Kiemenreusendornen bei der Nahrungsaufnahme näher betrachtet. Dies wurde für Balchen (C. alpinus) und Brienzlig (C. albellus) des Thunersees untersucht, die dem Grunder resp. dem Hägling des Walensees morphologisch und ökologisch ähnlich sind. In Fütterungsexperimenten konnte gezeigt werden, dass Brienzlige mit vielen langen Kiemenreusendornen effizienter kleines Zooplankton fressen als Balchen mit wenigen, kurzen Kiemenreusendornen [29]. Dies gilt insbesondere für kleines Zooplankton (Abbildung 3.8, links). Es konnte auch gezeigt werden, dass Balchen beim Fressen von benthischer Nahrung (in diesem Fall Mückenlarven aus dem Sediment) effizienter sind als Brienzlige [30]. Abb. 3.6: Foto eines Kiemenapparats mit den vier Kiemenbögen und den darauf sitzenden Kiemenreusendornen. Mit diesen wird die aufgenommene Nahrung aus dem Wasser oder dem Sediment filtriert, zurückgehalten und in den Schlund befördert, während Wasser und feinere Bestandteile durch die Kiemenöffnungen wieder an die Umgebung abgegeben werden. Abb. 3.8: Fresseffizienz der Albeli (C. albellus, weiss) und der Balchen (C. alpinus, schwarz) aus dem Thunersee in Abhängigkeit von der Grösse des Zooplanktons (links) und von der Anzahl Kiemenreusendornen (rechts). Gefüllte Kreise und Quadrate stellen die verschiedenen Aufzuchtbecken der Balchen dar. Fresseffizienz Gross Klein Mittel Grösse Zooplankton Fresseffizienz Anzahl Kiemenreusendornen Der Hägling und der Grunder sind also an unterschiedliche Nahrungsnischen angepasst und entsprechend variieren die Länge und Anzahl ihrer Kiemenreusendornen deutlich (Abbildung 3.8). Dies wurde auch anhand von Mageninhaltsanalysen bestätigt (M. Kugler pers. Mitteilung). Sie unterscheiden sich auch in ihrem Fortpflanzungsverhalten. Der Hägling laicht im tiefen Wasser (meist deutlich tiefer als 20 m) und hat eine sehr ausgedehnte Laichzeit. Die ersten Fische können sich bereits im Spätsommer fortpflanzen, die letzten sind noch im Winter mit der Fortpflanzung beschäftigt. Der Grunder laicht ausschliesslich in sehr seichtem Wasser nahe am Ufer (0.5– 10 m, selten tiefer) und erst gegen Ende Dezember, wenn die Wassertemperatur im Flachwasser unter 10°C fällt. Daher kommen Kreuzungen (Hybridisierungen) zwischen den beiden Arten in der Natur nur selten vor [13, 26]. Der genetische Unterschied zwischen den beiden Arten ist daher sehr gross [28]. Damit ist klar, dass der Grunder (C. duplex) und der Hägling (C. heglingus) eindeutig als Arten zu betrachten sind. Sie sind das Ergebnis einer rezenten ökologischen Artbildung im Seesystem Walensee/Zürichsee. 3.4.2 Beispiel Neuenburgersee: fliessender Übergang von einer Art zur anderen – natürlich oder anthropogen versursacht Der Prozess der Artbildung ist jedoch nicht in allen Seen und nicht für alle Arten gleich weit fortgeschritten. Dementsprechend sind auch die genetischen, morphologischen und ökologischen Unterschiede zwischen jungen Arten unterschiedlich gross. Für die Bewirtschaftung eines Sees ist entscheidend, wie sich die Artenvielfalt in einem See zusammensetzt, welche Mechanismen der Differenzierung der Artenvielfalt zugrunde liegen, und wie diese Mechanismen erhalten werden. Nur wenn diese Mechanismen bekannt und deren ökologischen Grundlagen entschlüsselt sind, kann die Bewirtschaftung artenreicher Fischbestände nachhaltig gestaltet werden. Im Neuenburgersee hatte die Forschung Mühe, die Anzahl an Arten zu bestimmen. Mal wurden zwei Arten unterschieden, die Palée (C. palaea) und das Bondelle (C. candidus) [8]. Einige Autoren haben jedoch drei Arten unterschieden. Die Palée wurde dabei in zwei Arten unterteilt, die «Palée de bord», also die uferlaichende Palée, und die «Palée de fond», manchmal auch «petite Palée» genannt, die tiefer laicht [31, 32]. Abb. 3.7: Links: Anzahl Kiemenreusendornen und Körperlänge von Grunder und Hägling des Walensees im Alter von drei Jahren; Rechts: Längenhistogramm von fünf Jahre alten Häglingen und Grundern des Walensee.

22 Felchenvielfalt in Seen der Schweiz – Schlussbericht 2025 23 Felchenvielfalt in Seen der Schweiz – Schlussbericht 2025 Eine detaillierte Untersuchung der Felchenvielfalt, die entlang eines Tiefengradienten gemacht wurde, konnte zeigen, dass heute im See ein morphologisches und genetisches Artenkontinuum existiert [33]. Die Studie konnte zeigen, dass sich die Morphologie der Felchen im Neuenburger See entlang des Tiefengradienten von den uferlaichenden Palée (C. palaea) zu den tief laichenden Bondelle (C. candidus) kontinuierlich verändert (Abbildung 3.9 und Abbildung 3.10, links). Sehr ähnlich stellt sich die genetische Differenzierung dar, wenn sie mit Mikrosatelliten-DNA gemessen wird (Abbildung 3.10, rechts). Mit der Sequenzierung ganzer Genome konnte aber kürzlich gezeigt werden, dass Bondelle aus dem Neuenburgersee untereinander und mit Bondelle (C. confusus) des Bielersees näher verwandt sind als mit den Palées des Neuenburgersees und dasselbe traf auf die Palées beider Seen zu [34]. Es gibt also eine reproduktive Isolation. Ohne diese wäre die Aufrechterhaltung der genetischen Differenzierung nicht möglich. Genetische und morphologische Zwischenformen sind heute im See dennoch vorhanden. Die möglichen Ursachen für die Entstehung eines solchen Artengradienten sind vielfältig. Ein natürlicher Ursprung ist möglich, z.B. wenn der Prozess der Artbildung noch nicht abgeschlossen ist. Im Neuenburgersee kann dies jedoch ausgeschlossen werden, da sowohl Bondelle and als auch Palée ihre nächsten Verwandten bei den Bondelle und Palée im Bielersee haben und nicht in der anderen Felchenart im gleichen See. Die zweite, wahrscheinlichere Ursache ist anthropogener Natur. So könnten die ökologischen Veränderungen, die in den letzten ca. 100 Jahren im See stattgefunden haben, zu einer Abschwächung der Mechanismen geführt haben, die ursprünglich zur Artbildung führten, so dass wir eine teilweise Umkehrung der Artbildung beobachten. Abb. 3.9: Felchen, die im Neuenburgersee im Laichfischfang (2006) in unterschiedlichen Tiefen gefangen wurden [35]. Abb. 3.10: Links: Morphologische Eigenschaften der zwei Felchenarten entlang des Tiefengradienten (die gestrichelte Linie zeigt die Regressionslinie), Rechts: Genetische und morphologische Differenzierung zwischen den zwei Felchenarten entlang des Tiefen- gradienten [33]. Abb. 3.11: Genetische Unterschiede (Hauptkomponentenanalyse) zwischen Felchenarten aus dem Thunersee. Nur Individuen mit eindeutiger Artzuordnung in der Strukturzuordnungsanalyse (Structure [37]) sind eingefärbt. Grafik angepasst von [36]. 3.4.3 Beispiel Thunersee: ausserordentlich grosse Felchenartenvielfalt Das Seensystem der beiden Seen im Berner Oberland weist eine sehr hohe Felchenvielfalt auf. Kein See oder Seensystem der Schweiz beherbergt mehr Felchenarten als der Brienzer- und der Thunersee. Im Thunersee wurden bis heute insgesamt sechs Felchenarten identifiziert. Zusammen mit dem Brienzersee sind es sogar sieben Arten. Diese Vielfalt zeugt davon, dass die ursprüngliche Biodiversität der Felchen hier gut erhalten ist. Im weltweiten Vergleich ist das einzigartig. Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es diese Konzentration von Felchenartenvielfalt auf relativ wenig Raum. Im russischen Ladogasee [11] sind zwar mindestens sieben sympatrische Felchenarten bekannt, im Onegasee vermutlich sogar neun Arten [8], aber diese Seen sind mit einer Oberfläche von 9 700 respektive 17700 km2 mindestens zweihundertmal grösser als der Thunersee mit einer Oberfläche von nur 48 km2. Die Artenvielfalt zeugt also von einer ursprünglichen und gut erhaltenen Biodiversität im Thunersee. Gleichzeitig ist sie ein einzigartiges Zeugnis der sympatrischen Artbildung bei Fischen. Alle sieben Arten unterscheiden sich genetisch voneinander (Abbildung 3.11 zeigt die Unterscheidung für den Thunersee). Die signifikanten genetischen Unterschiede (FST-Werte, ein Mass für die genetische Differenzierung zwischen Arten oder Populationen) zwischen den Arten liegen zwischen 0.05 bis 0.27 [36]. Das heisst, dass die reproduktive Isolation zwischen den Arten eindeutig messbar ist.

24 Felchenvielfalt in Seen der Schweiz – Schlussbericht 2025 25 Felchenvielfalt in Seen der Schweiz – Schlussbericht 2025 Die Arten unterscheiden sich nicht nur genetisch voneinander, sondern auch in Merkmalen wie z.B. der Grösse, der Anzahl und Länge der Kiemenreusendornen, der Laichtiefe und Laichzeit (Abbildung 3.12) [36]. Der Fangort im See spielt für die Differenzierung zwischen den Arten keine Rolle. Dies beweist, dass geographische Faktoren nicht für die genetische Differenzierung der Arten verantwortlich sind [36]. Stattdessen konnte gezeigt werden, dass die genetischen Unterschiede zwischen den Arten mit ökologischen (Anzahl der Kiemenreusendornen) oder reproduktiven (Laichtiefe) Merkmalen korrelieren. Diese Beobachtung deckt sich mit der aus dem Neuenburgersee, wobei die Artenvielfalt im Thunersee höher ist. Neuere genetische [36] und genomische [34] Untersuchungen bestätigen frühere genetische Untersuchungen [18], die zeigen, dass der Albock (C. acrinasus) genetisch nah verwandt ist mit den Bodenseefelchen. Aus historischen Dokumenten ist ein intensiver Besatz mit Bodenseefelchen im Thunersee bekannt, so dass davon auszugehen ist, dass diese Art entweder durch die Besatzmassnahmen beeinflusst wurde, oder gar als Hybridart aus Besatzmassnahmen hervorgegangen ist [36]. Der Albock ist heute eine häufige Art mit einer spezifischen Nische (Abbildung 3.12). Abb. 3.12: Ökologische und reproduktive Differenzierungen zwischen den Felchenarten des Thunersees. Grafik angepasst von [36]. Abb. 3.13: Links: Anzahl Felchenarten im Vergleich mit der Variationsbreite der Anzahl Kiemenreusendornen, die im See beobachtet wird. Rechts: Anzahl Felchenarten, die in Schweizer Seen historisch beschrieben wurden, im Vergleich zur maximalen Wassertiefe der Seen (logarithmische Skala). Die schwarze Linie zeigt die Regressionslinie mit dem zugehörigen Bestimmtheitsmass (R2) an [9]. 3.5 Anpassung an Nahrungsnischen erklärt Artenvielfalt pro See Die drei Beispiele zeigen, dass die heute beobachtete Artenvielfalt in den verschiedenen Seen seenspezifisch ist. Die genauen Gründe, warum sich die Felchen in einem See in bis zu sechs Arten aufspalten konnten, in anderen aber nicht oder in weniger Arten, sind noch nicht abschliessend geklärt. Wahrscheinlich spielen auch Verbindungen zwischen Seen eine Rolle, denn neuere genomische Analysen weisen darauf hin, dass die artenreichsten Seen mehr als einmal natürlicherweise kolonisiert wurden [34]. In jedem Fall spielen die Umweltbedingungen in den jeweiligen Seen und die daraus resultierenden Anpassungen an die Nahrungsressourcen eine wichtige Rolle. So konnte beispielsweise gezeigt werden, dass die beobachtete Artenvielfalt sehr stark mit der Variationsbreite der Anzahl Kiemenreusendornen in einem See korreliert (Abbildung 3.13, links). In Seen mit Felchen, die ein grösseres Spektrum an Kiemenreusendornen aufweisen, finden sich mehr Felchenarten. Da die Anzahl der Kiemenreusendornen nachweislich mit einer Spezialisierung auf gewisse Nahrungsquellen einhergeht, dürfte die Vielfalt an Nahrungsquellen eine wichtige Rolle bei der Differenzierung der Arten gespielt haben. Auffallend ist auch, dass sich eine hohe Artenvielfalt eher in grossen und tiefen Seen entwickelt hat (Abbildung 3.13, rechts; Thunersee, Vierwaldstättersee, Bodensee). Kleinere und weniger tiefe Seen beherbergen oder beherbergten meistens nur eine, maximal zwei Felchenarten (Sempachersee, Hallwilersee, Baldeggersee, Pfäffikersee, Greifensee). Das Potenzial für eine hohe Artenvielfalt ist deshalb in den grossen und tiefen Voralpenseen grundsätzlich höher. Trotzdem weisen nicht alle grossen und tiefen Voralpenseen eine hohe Anzahl Felchenarten auf. Im Genfersee z.B. kamen, soweit bekannt, natürlicherweise nur zwei Felchenarten vor, die heute als ausgestorben geltenden Gravenche (C. hiemalis) und Féra (C. fera). Interessant ist die Beobachtung, dass benthische Felchenarten mit sehr wenigen Kiemenreusendornen nur in drei Schweizer Seen vorkommen oder vorkamen. In zwei dieser Seen sind diese benthischen Spezialisten jedoch ausgestorben: der heute noch existierende Kropfer (Coregonus profundus) im Thunersee, der ausgestorbene Kilch (C. gutturosus) im Bodensee sowie der ebenfalls ausgestorbene Zuger Albock (C. obliterus) im Zugersee. Die häufigste Spezialisierung, die in vielen Seen beobachtet wird, ist die Entwicklung einer kleinen, pelagischen Felchenart, die auf Zooplankton spezialisiert ist (z.B. Albeli aus dem Zürich- und Walensee (C. heglingus), Brienzlig aus dem Thuner- und Brienzersee (C. albellus) oder Bondelle aus dem Neuenburgersee (C. candidus)). Diese Arten sind immer mit mindestens einer grossen, mehr Makrozoobenthos fressenden Felchenart (z.B. Balchen aus dem Thuner- und Brienzersee (C. alpinus), Grunder aus dem Zürich- und Walensee (C. duplex) oder Palée aus dem Neuenburgersee (C. palaea) vergesellschaftet. log(Wassertiefe) Anzahl Felchenarten heute

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